30 Dezember 2010

Abgesprungen

Es war einmal ein Volk, das lebte auf einem riesengrossen Karussell. Das Karussell drehte sich sehr, sehr schnell. So schnell, dass die Leute darauf die Welt rundherum gar nicht mehr klar sehen konnten. Da hätten sie sich schon einmal ganz fest konzentrieren müssen. Aber für so etwas hatten die Leute keine Zeit, so sehr waren sie damit beschäftigt, irgendwelche Dinge auf dem Karussell zu erledigen, die ihnen dort aufgetragen wurden. Sie lebten unter der ständigen Angst, vom Karussell zu fallen. Denn niemand wusste genau, was dort war, wo das Karussell aufhörte, und vor allem war keiner, der heruntergefallen war, je wieder zurückgekehrt. Also versuchten sie, nicht zu viel daran zu denken, sondern sich auf ihr Leben auf dem Karussell zu konzentrieren. Sie waren denn auch froh, gab es so unglaublich viel zu tun dort. Und je mehr jemand zu tun bekam, desto weiter in der Mitte des Karussells durfte er sich aufhalten. So war es geregelt. Ganz in der Mitte war man am sichersten und genoss hohes Ansehen. Mit jemandem, der am Rande lebte, wollte kaum jemand etwas zu tun haben, dort war es viel zu gefährlich. Man könnte ja eines Tages plötzlich vom Karussell geschleudert werden. Zudem gab es dort am Rand ein paar Verrückte, die sich freiwillig darauf vorbereiteten, das Karussell mit einem mutigen Sprung ins Ungewisse zu verlassen.
Kaum jemand von den Leuten auf dem Karussell wusste es, doch genau ihr emsiges Treiben trieb auch das Karussell an. Je mehr sie taten, um in dessen Mitte zu gelangen, desto schneller wurde es und desto grösser wurde wiederum ihre Angst.

Eines Tages machte sich eine der Verrückten am Rande des Karussells bereit für ihren Sprung. Sie hatte die ewig gleichen Wege des Karussells satt. Sie hatte lange gezögert und verzweifelt andere Auswege gesucht, die es nicht gab. Jetzt wollte sie springen. Allein der Entschluss verlieh ihr Flügel.
Natürlich landete sie trotzdem unsanft. Und in ihrem Kopf drehte sich alles noch lange Zeit so stark, dass sie immer wieder hinfiel beim Versuch aufrecht zu gehen. Doch langsam wurde das Drehen schwächer und ihr Blick wieder scharf. Sie sah wie schön die Welt war, wenn man sich die Zeit nehmen konnte, sie zu betrachten. Sie sah Wege, die nicht bloss immer nur im Kreis gingen.
Sie sah auch das Karussell, das sich viel zu schnell drehte, als dass sie je wieder hätte aufsteigen können.
Aber traurig war sie darüber nicht.