Es ist Winter. Trüb und grau und
matschig. Aber ich habe noch einen Apfel hinüber gerettet. Ich
weiss, wo er hing, wo er gross wurde. Wie schön es dort ist. Habe
ihn selbst gepflückt.
Ich beisse hinein.
Es ist Winter, aber ich beisse in den
Frühling. Als der Apfel Blüte war und durstig die wunderbar zarten,
ersten warmen Sonnenstrahlen trank. Ich esse seine Freude, die pure
Freude am Blühen. Ich esse all die Farben und Düfte um ihn herum,
das Summen der Bienen, das Lied der Vögel. Was für ein Fest. Ich
spüre die ganze Kraft des Baumes, wie sie in den Blüten förmlich
explodiert. Das selige Lächeln der Menschen, die diese weisse Pracht
bestaunen.
Es ist Winter. Ich beisse in den Apfel und lasse mir den Sommer auf der Zunge zergehen, der Sommer mit all seinen langen Abenden, die am Apfel vorbeigezogen sind, süss melancholische Sonnenuntergänge. Vielleicht hat er davon seine Süsse? Ich nähre mich am lodernden Morgenrot, eins schöner als das nächste, ganz bestimmt hat er auch davon seine Farbe. Ich schmecke die Tropfen des Sommerregens, die ihn erfrischen und an seiner prallen Haut herunter perlen, um dann im Nu von der heissen Mittagssonne und der sanften Brise wieder getrocknet zu werden. Ich spüre seine Backen vor Hitze glühen. Höre von Weitem Menschen ihr Sommerlachen lachen. Ich schaue mit ihm in die Weite aus grünen, saftigen Hügeln und strahlend blauem Himmel. Sehe mit ihm tagsüber den vorbeiziehenden Wolken nach und nachts den Sternen.
Ah dieser Apfel! Wie gut er schmeckt,
wie gut er tut!
Er ist voll von Leben, hat es für mich
eingefangen und aufbewahrt, damit ich gut über den Winter komme.
Dafür bin ich ihm so dankbar.
Es ist Winter. Ich beisse in den Apfel
und esse den Herbst. Das goldene Licht, in das der Apfel Abend für
Abend getaucht wird, das Licht, das die ganze Welt verzaubert. Ich
koste die würzige Frische des Nebels und nehme die Kraft des Windes
zu mir, der die ganzen, schwer behangenen Äste langsam hin und her
wiegen lässt.
Ich esse auch die Freude, die wir beim
Pflücken hatten. Wie wir auf den Baum kletterten, wieder Kinder
waren. Lachen, tief aus dem Bauch heraus.
Die Grenzen verschwimmen. Wessen Freude
war das jetzt – die meine oder die des Apfels? Wer hat die
Jahreszeiten erlebt und in sich gespeichert, wer ist am Baum
gewachsen und wer auf ihn geklettert? Wer isst und wer wird gegessen?
Man ist, was man isst, bekommt eine
völlig neue Dimension.
Der beschriebene Apfel ist jetzt in
mir. Aber das macht im Grunde gar keinen Unterschied mehr.